Die dritte Ausgabe des Mobility Services Report (MSR) fokussiert die Entwicklungstrends im Bereich Mobilitätsdienstleistungen in den wichtigsten Marktregionen der Welt. Das Center of Automotive Management (CAM) hat über 400 Services von Automobilherstellern, Digitalplayern und Mobility Providern in den Bereichen Fahrdienstvermittlung, Carsharing, multimodale Dienste sowie Micromobility nach quantitativen und qualitativen Kriterien erfasst und bewertet.
Die Mobilitätsdienstleistungen sind ungeachtet der Heterogenität der verschiedenen Servicefelder insgesamt in einer Konsolidierungs- und Reifephase. Dabei wirkt die Pandemie insgesamt als ein Katalysator, indem es den Ausleseprozess unter den Anbietern beschleunigt und die Neigung zu Kooperationen erhöht. Bei vielen Mobilitätsservices steht bereits der reale (Mobilitäts-)Nutzen und die Entwicklung nachhaltig profitabler Geschäftsmodelle der Anbieter im Vordergrund . Die Trends in den einzelnen Mobilitätsdienstleistungsfeldern sind darüber hinaus jedoch noch recht heterogen.
Fahrdienstvermittlung ist das größte und bedeutendste Mobilitätsdienstleistungsfeld, bei dem mittel- und langfristig durch autonomes Fahren erhebliche Umsatzpotenzialen zu erwarten sind. Im Sample wurden 111 Services in sieben Fahrdienstbereichen wie Taxiportale, Privattaxi oder autonome Shuttles untersucht. Die Servicetypen Privattaxis und Taxi-Portale bilden zunehmend oligopolistische Marktstrukturen heraus, d.h. nur wenige Unternehmen besitzen eine hohe Marktdurchdringung. Dominiert wird dieser Markt von Mobility Providern/Start-ups, während Automobilhersteller – mit Ausnahme des BMW/Daimler-Joint Ventures (z.B. Free Now) – keine relevante Rolle als Anbieter spielen. Am stärksten sind die Services in den USA und in China verbreitet, wo Uber und Lyft bzw. Didi Chuxing den Markt kontrollieren. Gesamthaft erreichen Uber und Didi Chuxing die höchste Servicestärke. Die führenden Unternehmen entwickeln zunehmend umfassende „Ökosysteme einer Sharing-Mobilität“, die auf ihren Digital-Portalen nicht mehr nur diverse Fahrdienste und auch Lieferservices kombinieren. Zusätzlich werden neue Geschäftsfelder wie Leasing oder Ladedienste für Elektroautos aufgebaut. Der Marktführer Didi hat z.B. einen Automobilhersteller beauftragt nach seinen Vorgaben ein speziell für den Sharing-Bereich zugeschnittenes Elektrofahrzeug entwickeln und bauen zu lassen. Darüber hinaus engagiert sich das Unternehmen intensiv im Bereich des autonomen Fahrens. Durch die hohe Zahl von Kunden- und Fahrzeugen und der entsprechenden Marktstärke der Mobility Provider könnten Fahrzeughersteller längerfristig zu Lieferanten der Sharing-Anbieter herabgestuft werden.
Vollautonomes bzw. fahrerloses Fahren eröffnet völlig neue Geschäftsfelder im Sharing-Umfeld, jedoch hängt der Erfolg wesentlich von der Entwicklung „strategischer Kompetenzen“ ab. Dabei handelt es sich um interne und externe Wissenselemente, Humanressourcen, technische Ressourcen sowie um Geschäftsprozesse. Die Analyse der Entwicklungstrends im Bereich des autonomen Fahrens bzw. der autonomen Fahrdienste zeigt dabei erhebliche Kompetenzunterschiede zwischen den Akteuren, wobei zwei zentrale Wertschöpfungsfelder bzw. „Profit Pools“ des autonomen Fahrens unterschieden werden können: Erstens, das autonome Fahrsystem, dessen technische Entwicklung umfangreiche Kompetenzen in den Bereichen Hardware-, Software und Daten (insbes. Sensorik, Aktuatorik, Fahrschlauch-Algorithmus, Cybersecurity) erfordert. Im Akteursvergleich hat derzeit die Alphabet-Tochter Waymo die höchsten Kompetenzen beim (voll-)autonomen Fahren. Ein Feld mit technologisch hoch bewerteten Playern besteht aus Intel (Mobileye), GM (Cruise) sowie Amazon, Baidu und Pony.AI. Im oberen Mittelfeld befinden sich ferner die Automobil-OEMs Volkswagen, Hyundai und Tesla, deren strategische Kompetenzen auf ähnlichem Niveau liegen. Während weiteren Digitalunternehmen bzw. Mobility Providern wie Didi Chuxing, AutoX oder Apple mit mittleren bis hohen Kompetenzen noch Chancen bei der Entwicklung der autonomen Fahrsysteme besitzen, erscheint ein Großteil der etablierten Automobilhersteller als abgeschlagen.
Shared Mobility Services bieten Mobilitätsoptionen ohne Autobesitz, mit denen auch die kommerzielle Nutzung des autonomen Fahrens realisiert werden kann. Neben der technologischen Entwicklung des autonomen Fahrsystems zählen als zweites Element daher auch die Service-Kompetenzen, also das Know-how, die Ressourcen und Assets rund um den Betrieb von (autonomen) Fahrdiensten bzw. Mobilitäts-Plattformen zu den strategischen Kompetenzfeldern des autonomen Fahrens: Als wichtig erscheinen spezielles Know-how als Betreiber von autonomen Fahrdiensten sowie gleichzeitig die Existenz und Qualität von Fahrdienst- bzw. Mobilitätsplattformen. Die Mobilitätsplattform stellt einen Marktplatz für Mobilitätsangebote dar und bringt diese mit einer möglichst hohen Kundennachfrage zusammen. In diesem Zukunftsfeld setzt sich aktuell eine Gruppe mit Top-Innovatoren von der Konkurrenz ab. Zu dieser Gruppe gehört wiederum Alphabet mit Waymo und Google Maps, der chinesische Mobilitätsdienstleister Didi Chuxing sowie Intel mit Mobileye und Moovit. Die OEMs nehmen momentan mit weitem Abstand zu den vorherigen Gruppen eine Verfolgerposition ein und haben verglichen mit der Spitzengruppe in diesen Kompetenzfeldern großen Aufholbedarf.
Innerhalb des Mobilitätsdienstleistungsfeldes Carsharing wurden 47 Anbieterservices untersucht, die sich in die Servicetypen Free-float, stationsbasiert und Peer-to-Peer Carsharing aufteilen. Größter Free-Floating-Anbieter ist das Joint-Venture von BMW und Daimler „Your Now“ mit seinem Dienst ShareNow. Bei ShareNow zeigt sich jedoch im Vergleich zu den Vorjahren eine Konsolidierung, da sowohl die bedienten Städte als auch die Zahl der Kunden rückläufig sind. Stationsbasiertes Carsharing ist insbesondere in China auf Wachstumskurs. Die drei großen chinesischen Anbieter Gofun (Shouqi), BAIC Mobility und EVCard (SAIC) verfügen über die größten Fahrzeugflotten. Das Peer-2-Peer Carsharing wird von drei großen Unternehmen beherrscht: Nach Kundenanzahl handelt es sich bei Turo um den größten Anbieter, gefolgt von Getaround und Free2Move (bislang bekannt als „Travelcar“). Insgesamt lassen sich hier vier Trends identifizieren: Immer mehr Dienstleister elektrifizieren ihre Free-Floating-Flotten in mehreren Städten, z.B. Share Now (BMW/Daimler), Free2Move (Stellantis) oder WeShare (VW). Knapp 40 Prozent der Free-Floating-Carsharing-Anbieter in Europa arbeiten bereits mit einer 100-prozentigen Elektroflotte. Mehrere Carsharing-Anbieter testen oder starten bereits multimodale Angebote. Ziel ist die bessere Vernetzung der Carsharing-Angebote mit anderen Verkehrsträgern. Im Bereich des Peer-to-Peer-Carsharings setzt sich – wie bislang schon beim Free-floating – ein digitaler Buchungsprozess immer mehr durch. Neben der Nutzung von Standard-Pkws für das Carsharing experimentieren die Betreiber mit Special Purpose Vehicles, d.h. speziellen Fahrzeugen für den Carsharing-Einsatz. Der Fokus liegt entweder auf einer verbesserte Haltbarkeit oder einem geringeren Platzbedarf der Fahrzeuge in den Innenstädten
•Aus der Perspektive der relevanten Akteure von Mobility Services ergeben sich folgende Befunde: Unter den globalen Automobilherstellern ist eine starke Polarisierung von wenigen engagierten Unternehmen und vielen eher passiven Akteuren festzustellen. Die in vielen Fällen recht allgemeinen und unkonkreten strategischen Aussagen vieler Automobilhersteller sind meist dem Umstand geschuldet, dass vernetzte Mobilitätsdienstleistungen ein relativ neues Geschäftsfeld darstellt, das bislang nicht zu ihren Kernkompetenzen zählte. Die Analyse der Mobilitätsangebote zeigt, dass viele OEMs entsprechend noch kaum praktische Erfahrungen mit Mobility Services haben. So bieten große etablierte OEMs wie Honda, Ford oder Nissan bislang kaum entsprechende Dienste an. Unter den betrachteten chinesischen OEMs ist – mit Ausnahme von SAIC und Geely – das Angebot von Mobility Services ebenfalls noch schwach ausgeprägt. Das gilt auch für Startups wie Nio oder auch Tesla, die den Sharing-Bereich bislang weitgehend ausgeblendet haben.
Aus der Analyse der Verfügbarkeit und der qualitativen Marktdurchdringung (Zahl der Kunden, Fahrzeuge etc.) von Mobilitätsdienstleistungen schneiden unter 30 Automobilherstellern nur drei Konzerne sehr gut ab: Daimler (330 Indexpunkte), BMW (263 IP) und Stellantis (248 IP). Mit deutlichem Abstand folgen im Mittelfeld die VW Group, Toyota, SAIC, Renault und Geely (165-150 IP) sowie Hyundai (119 IP) und Ford (100 IP). Geely und General Motors haben im Vergleich zum Vorjahr mehrere Plätze im Ranking verloren, während Stellantis (Vorjahr noch getrennt: PSA und Fiat-Chrysler), Toyota und SAIC zu den Aufsteigern zählen.
Allerdings sind die Automobilhersteller im Sharing-Universum alles andere als allein. So zeigt sich, dass die etablierten Automobilhersteller im intensiven Wettbewerb mit spezialisierten Mobility Providern und großen Digital Playern stehen, welche in vielen Mobilitätsdienstleistungsfeldern sogar dominieren. Automobilhersteller spielen im Service-Hauptfeld Carsharing eine wichtige Rolle: Daimler, Stellantis und BMW führen das Feld an, vor allem wegen der starken Position beim Free-floating Carsharing. Ähnlich bei den multimodalen Diensten: Auch hier liegen die genannten drei mit ihren Marken FreeNow/Reach Now (Daimler, BMW) bzw. Free2Move (Stellantis) vorn. Ganz anders sieht die Wettbewerbssituation im Bereich der Fahrdienstvermittlung aus: Dominiert wird das Feld von den Mobility Playern, allen voran den großen globalen „New Mobility“-Firmen Didi Chuxing und Uber, die mit Abstand am stärksten sind. Das betrifft nicht nur die Gesamtwertung, sondern auch wichtige Servicetypen wie Taxi-Portal, Ridesharing und die Privattaxi- und Chauffeursdienste. Lediglich Daimler und BMW spielen u.a. mit FreeNow in diesem Bereich (noch) eine relevante Rolle. Auch der Bereich Micro-Mobility ist keine Domäne der Automobilhersteller. Hier sind fast ausschließlich Mobility Provider Startups vertreten, wobei der wichtigste Anbieter Neutron mit der Marke Lime ist, gefolgt von Didi Chuxing („Didi Bike“), Meituan, Bird, Tier, Youon („Hellobike“) und Nextbike.
Zwischen 2011 und 2020 wurden im Referenzmarkt USA ein Rekordwert von 331 Mio. Fahrzeuge wegen sicherheitstechnischer Mängel zurückgerufen. Dies entspricht einer Rückrufquote von 201 Prozent, d.h. es wurden mehr als doppelt so viele Fahrzeuge zurückgerufen als im gleichen Zeitraum an Neuwagen verkauft wurden.
Die Auswertungen der Rückrufe des Jahres 2020 und des 1. Halbjahres 2021 zeigen keine Trendumkehr, sondern verstärken den Negativtrend. Die Anzahl der zurückgerufenen Fahrzeuge der globalen Hersteller beläuft sich im Jahr 2020 auf 30,3 Mio. und im ersten Halbjahr 2021 bereits auf 18,6 Mio. Pkw. Die Rückrufquoten liegen mit 208 Prozent (2020) bzw. 227 Prozent (2021) damit wiederum über dem 10-Jahres Durchschnitt.
Im Jahr 2020 mussten Toyota, Honda sowie der US-Hersteller Ford die meisten Fahrzeuge aufgrund von Sicherheitsmängeln in die Werkstätten beordern. Die höchsten Rückrufquoten verzeichneten neben Volvo insbesondere die japanischen Konzerne Honda, Mitsubishi und Toyota. In der ersten Hälfte des Jahres 2021 sind der Premium-Hersteller Daimler sowie die US-Konzerne General Motors und Ford besonders betroffen.
Rückruf-Trends der Automobilhersteller im Vergleich 2020 – 1. HJ 2021
Die Rückrufe der Automobilhersteller bewegen sich weiter auf sehr hohem Niveau. Nach aktuellen Berechnungen wurden auf dem Referenzmarkt USA im Gesamtjahr 2020 30,3 Mio. Pkw wegen sicherheitstechnischen Mängeln zurückgerufen. Im ersten Halbjahr 2021 waren es bereits über 18,6 Mio. Pkw (inkl. LCV). Damit liegt die Rückrufquote, die die Anzahl der zurückgerufenen Fahrzeuge an den Neuzulassungen des Jahres ausdrückt, mit 208 Prozent im Jahr 2020 (2019: 219%) bzw. mit 227 Prozent im ersten Halbjahr 2021 wiederum auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau. Das sind die zentralen Ergebnisse der Studie „Rückruf-Trends der globalen Automobilhersteller 2011-2021“ des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach, das die Rückrufe der OEMs jährlich bilanziert.
Mit Rückrufquoten jenseits von 400 Prozent schneiden im Jahr 2020 die Hersteller Volvo, Honda und Mitsubishi am schlechtesten ab. Toyota ruft mit einer Quote von 328 Prozent und rund 7 Mio. betroffener Fahrzeuge die meisten Pkw wegen sicherheitstechnischer Mängel in die Werkstätten zurück, gefolgt von Honda mit 5,8 Mio. Pkw sowie Ford mit rund 5 Mio. Fahrzeugen. Die geringsten Rückrufquoten besitzen im Jahr 2020 Tesla (13%), Mazda (26%), GM (53%) und Jaguar Land Rover (75%). Die deutschen Automobilhersteller BMW, Volkswagen und Daimler liegen mit jeweils 126, 121 und 86 Prozent eher im Mittelfeld.
Rund 27 Prozent aller sicherheitsrelevanten Produktmängel im Jahr 2020 entfielen auf den Insassenschutz, während Qualitätsmängel beim Antriebsstrang (Motor, Getriebe) rund 21 Prozent der Rückrufe ausmachten. Auf die Karosserie zurückzuführende Sicherheitsmängel sind für rund 20 Prozent der zurückgerufenen Fahrzeuge verantwortlich, gefolgt von Problemen mit der Elektrik und Elektronik (14%) sowie Mängel an den Bremsanlagen (10%). Die erstmalige Auswertung von Rückrufen aufgrund von Softwarefehlern zeigt, dass deswegen im Jahr 2020 rund 7 Prozent der Pkw zurückgerufen werden mussten, was einem Volumen von knapp 2 Mio. Fahrzeugen entspricht. Die meisten Software-Probleme sind mit einem Anteil von 89 Prozent Honda zuzuordnen, gefolgt von Volvo mit 6 Prozent sowie Fiat-Chrysler mit knapp 2 Prozent.
Abbildung 1: Verteilung der sicherheitsrelevanten Mängel auf Baugruppen im US-Markt 2020
Im 1. Halbjahr 2021 liegt die Zahl der Rückrufe im US-Markt bereits bei 18,6 Mio. Pkw, was einer Rückrufquote von 227 Prozent entspricht. Eine hohe Rückrufmenge verbuchen dabei die amerikanischen Konzerne: der Marktführer GM kommt auf rund 7 Mio. Pkw, während Ford 3,7 Mio. Pkw zurückruft. Deren Rückrufquote liegt mit 525 bzw. 374 Prozent auf sehr hohem Niveau. Noch schlechter schneidet Daimler ab, die bei einem US-Absatz von rund 160.000 Pkw im ersten Halbjahr 2021 rund 2 Mio. Pkw zurückrufen müssen, was einer Rückrufquote von 1.275 Prozent entspricht. Mehr als die Hälfte aller sicherheitsrelevanten Produktmängel im 1. Halbjahr 2021 entfielen auf den Insassenschutz, während auf Elektrik/Elektronik 17,5 Prozent und auf den Antriebsstrang knapp 10 Prozent entfielen. Die übrigen Bereiche wie Fahrwerk (8%), Bremsanlage (6%), Karosserie (4%), Lenkanlage (2%) und sonstige Baugruppen (1%) nehmen eher eine untergeordnete Rolle ein. Mit einer absoluten Rückrufmenge von knapp 2,7 Mio. Fahrzeugen bzw. einem Anteil von rund 15 Prozent übersteigen Software-Mängel bereits zum Ende des Halbjahr 2021 den Gesamtjahreswert von 2020. Daimler musste mit einem Anteil von rund 64 Prozent die meisten Fahrzeuge aufgrund von Softwarefehlern zurückrufen, gefolgt von Subaru (17%), General Motors (11%) sowie Tesla (5%).
Im 1. Halbjahr 2021 liegt die Zahl der Rückrufe im US-Markt bereits bei 18,6 Mio. Pkw, was einer Rückrufquote von 227 Prozent entspricht. Eine hohe Rückrufmenge verbuchen dabei die amerikanischen Konzerne: der Marktführer GM kommt auf rund 7 Mio. Pkw, während Ford 3,7 Mio. Pkw zurückruft. Deren Rückrufquote liegt mit 525 bzw. 374 Prozent auf sehr hohem Niveau. Noch schlechter schneidet Daimler ab, die bei einem US-Absatz von rund 160.000 Pkw im ersten Halbjahr 2021 rund 2 Mio. Pkw zurückrufen müssen, was einer Rückrufquote von 1.275 Prozent entspricht. Mehr als die Hälfte aller sicherheitsrelevanten Produktmängel im 1. Halbjahr 2021 entfielen auf den Insassenschutz, während auf Elektrik/Elektronik 17,5 Prozent und auf den Antriebsstrang knapp 10 Prozent entfielen. Die übrigen Bereiche wie Fahrwerk (8%), Bremsanlage (6%), Karosserie (4%), Lenkanlage (2%) und sonstige Baugruppen (1%) nehmen eher eine untergeordnete Rolle ein. Mit einer absoluten Rückrufmenge von knapp 2,7 Mio. Fahrzeugen bzw. einem Anteil von rund 15 Prozent übersteigen Software-Mängel bereits zum Ende des Halbjahr 2021 den Gesamtjahreswert von 2020. Daimler musste mit einem Anteil von rund 64 Prozent die meisten Fahrzeuge aufgrund von Softwarefehlern zurückrufen, gefolgt von Subaru (17%), General Motors (11%) sowie Tesla (5%).
Für die insgesamt hohen Rückrufmengen und -quoten können im Einzelfall sehr unterschiedliche sicherheitsrelevante Bauteile verantwortlich sein:
Toyota musste im Jahr 2020 insgesamt fast 2,9 Mio. Fahrzeuge der Modellreihen Avalon, Corolla und Matrix zurückrufen, weil die elektronische Kontrolleinheit des Airbags eine Fehlfunktion aufwies.
Rund 2,1 Mio. Pkw verschiedener Modellreihen (u.a. Transit, Mustang, Fiesta) wurden vom US-Hersteller Ford zurückbeordert, weil eine bereits durchgeführte Reparatur an der Türverriegelung möglicherweise nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Zudem rief Ford 2021 bereits 2,6 Mio. Pkw der Typen Ranger, Fusion und Explorer zurück, weil die Frontairbags an der Fahrerseite unkontrolliert auslösen könnten, wenn sie längere Zeit einer hohen Luftfeuchtigkeit oder hohen Temperaturen ausgesetzt sind.
Die größte Rückrufmenge im ersten Halbjahr 2021 verbuchte der US-Konzern General Motors. Insgesamt wurden bis Juni rund 4,4 Mio. Fahrzeuge (u.a. Cadillac Escalade) in die Werkstätten gerufen, weil die Gefahr bestand, dass die Airbags unkontrolliert auslösen könnten. Ende August 2021 gab General Motors zusätzlich bekannt, dass neuerdings alle produzierten Pkw des Typs Chevrolet Bolt EV aufgrund eines Risikos von Batteriebränden zurückgerufen werden. Die Umrüstungskosten der circa 140.000 betroffenen Fahrzeuge bezifferte der Hersteller auf rund eine Milliarde US-Dollar.
Abbildung 2: Sicherheitstechnische Rückrufe von Pkw/LCV im US-Markt 2011 – 2021 (1. HJ.) (in Mio.)
Hierzu Studienleiter Stefan Bratzel:
„Die hohen Rückrufzahlen der letzten Jahre sind auch Kennzeichen des enormen Veränderungsdrucks, der auf der Branche lastet. Insgesamt ist bereits abzusehen, dass Probleme rund um das Batteriesystem sowie Softwareprobleme erheblich zunehmen werden. Allerdings stellen sicherheitstechnischen Rückrufe nur die Spitze des Eisbergs dar. Nicht selten gleicht die Produktherstellung mancher Automobilunternehmen einer „Bananenentwicklung“: Das Produkt reift erst beim Kunden. Das verärgert vielfach die Autokäufer und kann zu Personen- und Sachschäden führen. Außerdem kostet es die Hersteller mittel- und langfristig viel Geld und schadet ihrem Image.“
Rückrufe im Langzeitvergleich
In den letzten 10 Jahren (2011–2020) wurde ein Allzeit-Negativrekord von über 331 Mio.(!) zurückgerufenen Fahrzeugen allein im Referenzmarkt USA erreicht, was einer durchschnittlichen Rückrufquote von 201 Prozent entspricht. Inklusive des 1. Halbjahrs 2021 wurden seit dem Jahr 2011 349,7 Mio. Pkw zurückgerufen (Rückrufquote von 204%). D.h. es wurden mehr als doppelt so viele Fahrzeuge in die Werkstätten zurückbeordert als im gleichen Zeitraum an Neuwagen verkauft werden konnten (vgl. Abbildung 2). Ein Großteil der betroffenen zurückgerufenen Modelle bezieht sich entsprechend auf weiter zurückliegende Baujahre.
Nach Herstellern sind General Motors, Honda, Fiat-Chrysler sowie Ford und Toyota besonders betroffen, die binnen einer Dekade zwischen 60 und 46 Mio. Pkw wegen Sicherheitsmängeln zurückrufen mussten (vgl. Abbildung 3). Mit 342 Prozent erreicht Honda auch den Negativ-Spitzenwert bei der Rückrufquote vor Mitsubishi (331%), Fiat-Chrysler (273%) und Mazda (266%). General Motors, Toyota und Ford befinden sich mit Rückrufquoten zwischen 202, 191 und 185 Prozent im Mittelfeld. Überdurchschnittlich betroffen ist im Langzeitvergleich der Premiumhersteller BMW, der auf eine Rückrufquote von 219 Prozent kommt, während Daimler und der Volkswagen Konzern mit 201 bzw. 173 Prozent leicht unter dem Schnitt der betrachteten Hersteller liegen. Im Langzeitvergleich weisen Jaguar-Land Rover und Tesla mit 86 bzw. 55 Prozent die niedrigsten sicherheitsbezogenen Rückrufquoten der Branche auf gefolgt von Volvo (136%), Nissan (138%) und Hyundai (152%).
Abbildung 3: Rückrufmenge und Rückrufquoten der Pkw-Hersteller 2011-2021 (1.HJ) im US-Markt
Gründe für Qualitätsprobleme und Folgerungen
Die Rückrufe in den Jahren 2020 und 2021 (1. HJ) zeigen wiederum, dass die Produktqualität ein zentrales Thema in der Automobilindustrie bleibt. Wachsende Rückrufrisiken und steigende globale Sensibilität für Qualitätsmängel erfordern einen Paradigmenwechsel im Qualitätsmanagement der Automobilhersteller. Das Risiko großer Rückrufaktionen ist durch marken- und modellübergreifende Plattform- und Gleichteilestrategien sowie globale Produktionsnetzwerke erheblich gestiegen. Gleichzeitig werden sicherheitsrelevante Mängel an Fahrzeugen in den wichtigen Automobilmärkten immer weniger akzeptiert, gerade auch weil Kunden über länderübergreifende Internet-Blogs und Newsgroups sehr gut informiert sind. Sicherheitsrelevante Mängel können zu Todesfällen und Verletzungen der Autofahrer führen und darüber hinaus den Herstellern Imageverluste und hohe Kosten verursachen.
Das Qualitätsmanagement vieler Automobilhersteller trägt vielfach noch nicht den neuen globalen Produktsicherheitsanforderungen Rechnung. Manche Hersteller und Zulieferer betreiben zur kurzfristigen Gewinnmaximierung eher reaktive Qualitätsmanagementsysteme mit nachsorgender Mängelbeseitigung, teilweise unter billigender Inkaufnahme von Unfällen wie im Fall der Airbagmängel. Vor dem Hintergrund veränderter Entwicklungs- und Produktionsbedingungen und neuen Technologien und Funktionen im Fahrzeug sind jedoch proaktive und vorsorgende Produktqualitätsstrategien notwendig, bei denen umfassende und langfristige Kosten-/ Nutzenbetrachtungen im Mittelpunkt stehen müssen.
Hierzu Stefan Bratzel:
„Das Qualitätsmanagement der Hersteller muss vor dem Hintergrund neuer technischer Anforderungen sowie einer wachsenden Sensibilität der Öffentlichkeit eine deutlich höhere Relevanz in Automobilunternehmen erlangen. So entsteht etwa künftig neuer Kundennutzen durch Elektromobilität, Vernetzung und (teil-)autonome Fahrfunktionen. Aber es steigen dadurch auch in erheblichem Maße die Risiken. Die Cyber-Security von Fahrzeugen wird insgesamt zum großen Sicherheits- und Qualitätsthema der Branche aufsteigen, das wesentlich über die Akzeptanz von neuen Wachstumsfeldern der Automobilindustrie entscheidet. Abhilfe können Over-the-Air-Updates der Fahrzeugfunktionen schaffen, da viele Probleme durch softwaretechnische Optimierungen behoben werden können, ohne dass das Fahrzeug physisch in die Werkstatt muss. Derzeit beherrschen dies jedoch nur wenige Automobilhersteller.“
Zur Studie: Die Rückruf-Trends der globalen Automobilhersteller im Jahr 2020 und 2021 (1.HJ.) (AutomotivePERFORMANCE Report 2021)
Das Center of Automotive Management (CAM) analysiert seit dem Jahr 2005 jährlich die Rückrufe der globalen Automobilhersteller. Als Referenzmarkt wird dabei die USA gewählt. Der US-Markt ist aufgrund seiner Absatzgröße, der relativ scharfen Sicherheitsrichtlinien und vor allem des hohen Klagerisikos ein aussagekräftiger Indikator für die Produktqualität der Automobilkonzerne. Ein Rückruf wird von der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) in den USA registriert, wenn ein sicherheitsrelevanter Defekt an einem Fahrzeug auftritt oder das Fahrzeug bzw. dessen Teile nicht den Sicherheitsstandards entsprechen. Auslöser von Rückrufen sind häufig Beschwerden und Informationen zu Fahrzeugmängeln, z.B. von Autofahrern, die der NHTSA angezeigt werden. Kommt ein Hersteller seiner Anzeigepflicht nicht nach oder verzögert er einen Rückruf drohen hohe Strafen sowie Klagen in Millionenhöhe. Die Rückruf-Trends geben Hinweise darauf, dass die Produktqualität – gerade auch im Hinblick auf sicherheitsrelevante Merkmale im Fahrzeug – ein kritisches Thema der Branche bleibt, das nicht nur zu einer enormen direkten Kostenbelastung führen, sondern auch das Image von Fahrzeugherstellern enorm belasten kann.
Strukturelle Ursachen für wachsende Qualitätsprobleme.
1. Steigende technische Komplexität des Fahrzeugs
Die technische Komplexität der Fahrzeuge ist in den letzten 20 Jahren enorm gestiegen, wodurch die Fahrzeuge zwar grundsätzlich sicherer geworden sind. Allerdings führte die technische Komplexität auch zu einem Anstieg der Fehlerhäufigkeit und Fehleranfälligkeit. Hierzu tragen u.a. passive und aktive Sicherheitssysteme (wie ABS, ESP, Airbags; Fahrassistenzsysteme) bei, die gleichzeitig die Fahrzeugsicherheit deutlich erhöht haben. Darüber hinaus sind motortechnische Optimierungen (Start/Stopp-Systeme, Aufladung etc.) sowie zahlreiche Komfortmerkmale wie etwa Navigations- und Internetdienste im Fahrzeug zu nennen. Es ist zu erwarten, dass im Zuge der Entwicklung weiterer Komfort- und Sicherheitsfeatures sowie von Vernetzung und Softwarefunktionen auch künftig der Komplexitätsgrad der Fahrzeuge weiter deutlich zunimmt.
2. Zunahme der Entwicklungsgeschwindigkeit aufgrund gestiegener Wettbewerbsintensität
Die Produktentwicklungszyklen wurden in den vergangenen 15 Jahren deutlich verkürzt. Aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität der Branche bringen die globalen Hersteller in immer kürzerer Zeit neue Modelle bzw. Derivate in Umlauf und verbreitern damit ihr Produktportfolio kontinuierlich. Wer es schafft mit neuen Modellen bzw. -varianten schnell am Markt zu sein, hat im globalen Wettbewerb Vorteile. Der hohe Zeitdruck in der Produktentwicklung wirkt sich negativ auf die Qualitätssicherung aus.
3. Wertschöpfungsverlagerung und Globalisierung der Entwicklung und Produktion
Um Kosten-, Zeit- und Innovationsvorteile zu realisieren, wurden erhebliche Teile der Wertschöpfung auf die Automobilzulieferer übertragen. Ihr Wertschöpfungsanteil ist mittlerweile auf rund 75 Prozent gestiegen. Gleichzeitig steigen mit dieser Verlagerung die Anforderungen an unternehmensübergreifendes Qualitätsmanagement, das darüber hinaus auf globaler Ebene sichergestellt werden muss. Es muss einerseits nicht nur die eigene Produktqualität, sondern auch durch geeignete Prozesse die Teilequalität der globalen Lieferanten gesichert werden. Andererseits steigt die Komplexität eines Qualitätsmanagements auch dadurch, dass die Automobilhersteller nicht nur die zugelieferten Teile, sondern meist auch die Qualität der international verteilten Produktionsanlagen ihrer Zulieferer einschätzen und durch Prozesse absichern müssen.
4. Erhöhter Kostendruck als Gefahr für Produktqualität
Die Automobilhersteller stehen aufgrund der hohen Innovations- und Wettbewerbsintensität auch unter enormen Kostendruck. Gleichzeitig geben die Hersteller den Kostendruck an die Automobilzulieferer weiter, die dazu angehalten sind ihre eigenen Kosten bzw. die ihrer Teile- bzw. Rohstofflieferanten zu drücken. Hier besteht die Gefahr, dass der Kostendruck zu Ungunsten der Teile- bzw. Produktqualität geht.
5. Baukasten- und Gleichteilestrategie
Um Kosten zu sparen und die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen, müssen die Hersteller zunehmend auf Gleichteile- bzw. Baukastenstrategien setzen. Hierbei nutzen die OEM die gleichen Komponenten und Module in möglichst vielen Modellen, um von den hiermit verbundenen Mengeneffekten zu profitieren. Dadurch kann ein spät entdeckter Fehler im einem Baukastenmodul zu millionenfachen Fahrzeugrückrufen führen.